Oben & unten bei „incontri“ – Begegnung mit Lesezeichen
(Rohrbach, lot)
Der Mensch, so erleben wir an besonderen Tagen, hat zwei Arme, zwei Beine und zwei Klappen. Eine ist die Herzklappe, die andere ist die Klappe, die er nicht halten kann – und dies gewährleistet erstens, dass diejenigen, denen keiner mehr zuhört, sich hinsetzen und aufschreiben, was diejenigen, die es können, dann, zweitens, vorlesen und so, wie Christian Weigl, Nora Seiler, Lena und Lorenz Kettner ein Zeichen setzen: ein „Lesezeichen“. „Lesezeichen“, so nennt sich die Gruppe um Lorenz Kettner, die bereits seit Jahren Literaturfreunde mit ihren Lesungen in den Bann zieht und denjenigen, denen Zeit oder Lust fehlt, selbst zu lesen, diese Zeichen setzt: Lesezeichen mit dezentem Hinweis, was denn der Mensch von heute außer Armen, Beinen und Klappen noch so brauchen könnte an, na ja, an Literatur und Bildung – Herzensbildung neben Herzklappe. „Ihr da oben – wir da unten“ heißt das neue Programm, und die vier Vorleser thematisierten auf der Bühne bei „incontri“ in der KulturWerkHalle „Herren und Diener“ in der deutschsprachigen Literatur. Dass man dazu die schon erwähnten Arme und Beine bestens gebrauchen kann, bewiesen nicht zuletzt Nora Seiler und Christian Weigl, die einen Sketch von Loriot mit „Liebe im Büro“ als einen von ungezählten Höhepunkten des Abends handgreiflich zur Aufführung brachten. Goethes „Prolog im Himmel“ schlug einen brillanten Haken zu Robert Gernhardts „Der Herr rief: ‚Lieber Knecht, / mir ist entsetzlich schlecht!’ / Da sprach der Knecht zum Herrn: ‚Das hört man aber gern!’“, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem ein Individuum an und für sich sei, wenn es für ein anderes an und für sich ist, maulte als Lesezeichen über die Kammerdiener, die ihrem Herrn schon zu oft in die Schuhe oder ins Bett geholfen haben, als dass sie ihn noch als Helden wahrnehmen könnten, und wieder einmal demonstrierte Christian Weigl seine österreichischen Sprachfertigkeiten, indem er einen Herrn Qualtinger, nein: einen „Herrn Karl“ wiederauferstehen ließ. So las die Gruppe, mal heiter, mal ernster, doch stets faszinierend durch 200 Jahre Literatur, bis bei Josef Roths „Radetzkymarsch“ – ein Stück, an dem, so Lorenz Kettner, „unser Herzblut hängt“ – das unverhofft klingelnde Handy eines Gastes mit einer Melodie aus „Carmen“ nicht nur den Untergang des k.u.k.-Reiches bestätigte, sondern den endgültigen Untergang des Abendlandes einleitete und in die Pause führte. |
Nun werde es lustiger, versprach Lorenz Kettner mit dem Lächeln des Mephisto für den zweiten Teil, und tatsächlich, es ging: eine Krankenhaussatire (Klaus Peter Schreiner) aus dem Jahre 1968 (!) schüttelte das Publikum minutenlang wie eine Armada kleiner Lachsäckchen, und mit Hugo Wiener, Komponist, Librettist, Kabarettist, Autor und Pianist aus Wien (!), und seinem irrwitzigen Restaurant-Stück „Wünschen der Herr zu speisen?“ spielte das „Lesezeichen“ sich und das Publikum in der ausverkauften KulturWerkHalle an die gar nicht so weit von der Realität entfernte Wand des Wahnsinns. Herren und Knechte erstanden in allen Variationen, und immer erhellte sich – der Gerechtigkeit der Natur sei Dank – der signifikante Unterschied, dass der Knecht verzweifelt auf der Suche nach einem Frühstück für seinen Appetit ist, während der Herr sich noch verzweifelter nach einem Appetit für sein Frühstück verzehrt. So schnell war Schluss, und wir nehmen nun jede Wette an, dass keiner der hingegeben lauschenden Gäste an diesem Abend nach Hause ging, um Unfug zu treiben – es sei denn mit der Nase in einem Buch!
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